Kinder und Jugendliche in psychischen Krisen zu begleiten, erfordert nicht nur medizinisches Know-how, sondern vor allem Menschlichkeit, Offenheit und Reflexionsbereitschaft. Dr. med. Elisa Loewe ist Ärztin in Weiterbildung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP), Mutter, Vereinsvorsitzende und Netzwerkerin. Im Interview spricht sie über ihre Leidenschaft für das Fach, über Herausforderungen, Idealismus und ein neues Verständnis von ärztlicher Führungskultur.
„Es muss eine Rolle spielen können, wer ich als Mensch im Arztberuf bin.“
Frau Dr. Loewe, Sie sind Ärztin in Weiterbildung im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (KJP). Wann und warum haben Sie sich für dieses Fach entschieden?
Zur KJP kam ich eher zufällig. Ich wollte immer mit Kindern und Jugendlichen arbeiten und dachte während meines Studiums dabei an die Pädiatrie. Eine gute Freundin gab mir aber den Anstoß, mich in diesem Fach zu bewerben, da es gut zu mir passen würde. Sie behielt Recht. Das war kurz nach meinem Dritten Staatsexamen.
Was begeistert Sie am Fach KJP und was ist für Sie die größte Herausforderung?
Ich arbeite gern ausgeglichen medizinisch und therapeutisch mit meinen PatientInnen. In der Therapie spielt das System, das um die Kinder und Jugendlichen herum existiert (Eltern, Schule, Familienhilfen, Jugendamt etc.) eine wichtige Rolle. Daher gibt es auch verschiedene Möglichkeiten, Veränderungen zu bewirken. Ich durfte die Erfahrung machen, dass sich die Symptomatik meiner PatientInnen im Verlauf vollständig zurückbildet. Mich begeistert, dass in diesem Fach eine hohe Wirksamkeit erzielt werden kann und es ein großes präventives Potenzial gibt.
Und hier liegt gleichzeitig auch die größte Herausforderung: Aktuell werden häufig die Symptome behandelt. Es gibt für die betroffenen Kinder und Jugendlichen zu wenig Angebote, die langfristig und nachhaltig wirken können. Ich wünsche mir mehr Achtsamkeit, Beziehungsarbeit auf Augenhöhe und Prävention in diesem Fach. Es fehlen AusbilderInnen, die diese sehr menschliche Art und dieses Bewusstsein in der Medizin vermitteln. Während meiner zweieinhalbjährigen Tätigkeit in der universitären KJP in Schleswig-Holstein hat mir eine fundierte Ausbildung in der Elternbegleitung gefehlt – obwohl sie in unserem Fach eine zentrale Rolle spielt. Diese habe ich mir dann, als ich schon selbst Mutter war, privat bei einer einjährigen Fortbildung durch einen Facharzt für Psychosomatik angeeignet, der sich auf dieses Thema spezialisiert hat.
Wie ist die Weiterbildung in der KJP aufgebaut, was unterscheidet die klinischen Abschnitte von den ambulanten, und wo sehen Sie das größte Potenzial für Ihre Entwicklung?
Nach der neuen Weiterbildungsordnung (WBO) gibt es diesbezüglich viele Möglichkeiten. Ich entscheide für mich gar nicht so sehr danach, ob mich stationäres oder ambulantes Arbeiten weiterbringt. Lernen kann ich überall. Vielmehr geht es mir darum, was in der Gesamtschau aller Bedürfnisse, die sich in mir vereinen, der stimmigste Weg ist. So bin ich Ärztin, Mutter, Vorsitzende eines Vereins und nicht zuletzt auch einfach ich selbst. Ich entscheide daher sehr bewusst, wohin es mich zieht, wo sich Möglichkeiten ergeben und wie ich meine Kraft einteile, damit sie mir nicht ausgeht und bis zum Abend reicht. Das mag möglicherweise etwas utopisch klingen – für mich funktioniert es hervorragend. Aktuell arbeite ich im stationären Bereich, für meinen nächsten Weiterbildungsabschnitt hat sich ambulantes Arbeiten ergeben.
Sie befinden sich im dritten Jahr Ihrer Weiterbildung. Wie wird es für Sie weitergehen?
Im Moment befinde ich mich in einem Fremdjahr in einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie (für Erwachsene), welches ich zwar nach der neuen Weiterbildungsordnung nicht mehr machen muss, aber kann. Die Einblicke in die Arbeit mit Erwachsenen sind für mich ein großes Geschenk: Ich bekomme ein Gespür dafür, was passiert, wenn sich die Erkrankungen aus der Kindheit oder Jugend vollständig manifestiert haben. Das motiviert mich für die KJP und lässt mich gespannt auf Forschungen bezüglich Pathogenese und Prävention schauen. Außerdem lag für mich ein Vorteil darin, hier in einer halben Stelle und im Verlauf mit 75 Prozent arbeiten zu können.
Im Anschluss werde ich meinen Facharzt KJP abschließen und freue mich schon, den Familien neben meiner ärztlichen Erfahrung auch mit meiner „Selbsterfahrung“ als Mutter zu begegnen.
Die KJP ist eine der am stärksten gesuchten Fachrichtungen. Was denken Sie, wäre zu tun, um noch mehr künftige Ärztinnen und Ärzte dafür zu gewinnen?
Zunächst einmal ist die KJP kein approbationsrelevantes Fach und daher nicht als regelhafter klinischer Kurs im Medizinstudium vorgesehen. Es gibt junge KollegInnen, die gar nicht wissen, dass die KJP ein ärztliches Weiterbildungsfach mit eigenständigem Facharzt ist. Es braucht also mehr Kontakt zu Studierenden.
Des Weiteren erscheinen mir die Weiterbildungsmöglichkeiten knapp bemessen. In Dresden gibt es mit gut 570.000 Einwohnern lediglich eine Klinik mit (teil-)stationärer Versorgung im Stadtgebiet und extrem wenig ambulante Weiterbildungsmöglichkeiten. Der Bedarf auf Seite der PatientInnen ist im Gegensatz dazu enorm: Rund 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen haben psychische Probleme (1,2). Lange Wartezeiten und die Aggravation der Problematiken sind die Folge. Es braucht also dringend mehr Weiterbildungsmöglichkeiten. Hier ist glücklicherweise schon einiges in Bewegung.
Aus meiner Sicht wäre es außerdem wichtig, den Umgang miteinander in medizinischen Teams grundsätzlich zu verändern. Es ist nicht unbedingt attraktiv, wenn es im Arbeitsalltag ausschließlich um ein stumpfes Abarbeiten aller Aufgaben geht. Die stehen natürlich im Mittelpunkt. Es muss aber auch eine Rolle spielen können, wer ich als Mensch im Arztberuf bin. Helfen könnte eine Auflockerung alter Strukturen, Teamsupervision, gute Begleitung in der Weiterbildung und eine bewusste Fehlerkultur hin zu echtem, psychologisch sicherem Lernen. Es gibt Stationen, Abteilungen und Teams, in denen das bereits existiert. Diese sind unter KollegInnen meist sehr beliebt und zeigen wenig Fluktuation in der Belegschaft – die Bindung ist größer. Für solch ein einladendes Arbeitsumfeld kann (auch in der KJP) aktiv gesorgt werden.
Sie stemmen das Ganze als junge Mutter in Teilzeit. Geben Sie uns doch bitte einen Einblick, wie Sie das alles organisiert bekommen und wie es um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wirklich steht?
Das ist für mich eine Frage der Werte. Was ist mir persönlich wichtig? Wie genau möchte ich meine Zeit verbringen?
Ich habe mir zunächst eine relativ lange Elternzeit genommen: Mein jüngeres Kind war zweieinhalb Jahre alt, als ich wieder anfing in der Klinik zu arbeiten. Es war mir wichtig, meine Kinder mit emotionaler Kompetenz und Gelassenheit zu begleiten. Dabei habe ich mir an die eigene Nase gefasst und durfte in meiner damals neuen Rolle erst einmal selbst in die Lehre gehen. In diese Mutter-Rolle zu wachsen, hat mich herausgefordert und sie bereitet mir bis heute sehr viel Freude.
Für meine Arbeit ist entscheidend, dass ich sie nicht „überleben“ will – ich will sie ER-leben! Ich möchte Menschen medizinische Hilfe anbieten, dem Stations- oder Praxisalltag dienen, im Team arbeiten und dabei etwas lernen. Dafür braucht es nach stressigen oder überfordernden Momenten auch Zeit für Verarbeitung und jemanden, der mit mir zusammen auf Verläufe schaut, reflektiert und mich anleitet. Wenn das geschieht, motiviert mich das wiederum und erhöht meine Einsatzbereitschaft.
Für den Wiedereinstieg in die Medizin nach der Elternzeit war es mir wichtig, zunächst in einer halben Stelle zu arbeiten. Dieser Wunsch war bei meinen Bewerbungen in der KJP, aber auch in Fremdjahrfächern im Raum Dresden, neben einem ausgelasteten Stellenplan, der angegebene Grund für eine Absage.
Viel Eigeninitiative, Mut, Geduld und Unterstützung sind also nötig, um alles gut unter einen Hut zu bekommen.
Sie engagieren sich darüber hinaus noch in einem Verein, der sich für mehr Menschlichkeit in der Medizin stark macht. Wie kam es dazu, was sind Ihre Ziele und gibt es konkrete Projekte, die der Verein bereits umgesetzt hat?
Medizin und Menschlichkeit e.V. wurde 2009 von Medizinstudierenden für Medizinstudierende aus dem Wunsch heraus gegründet, der Ausbildung im Gesundheitswesen einen wesentlichen, fehlenden Teil hinzuzufügen: Einen Ort zur Entdeckung und Entwicklung unseres urmenschlichen Potenzials als Ergänzung zur medizinisch-fachlichen Kompetenz. Hier wird die persönliche Entwicklung ermöglicht, die es für mehr Menschlichkeit in der Medizin dringend braucht.
Wir bieten ärztliche Fortbildungen zu Themen an, die im Medizinstudium immer noch zu wenig Platz haben. Dazu zählen beispielsweise die Auseinandersetzung mit den eigenen Werten oder das Thema Berührung, denn so oft fassen wir PatientInnen in Untersuchungen an, sind aber eher unachtsam oder gar grenzüberschreitend dabei. Es geht auch um Gefühle, Humor, das eigene Potenzial, ums „Mensch sein und bleiben“ im Gesundheitsberuf, gendersensibles und traumainformiertes Arbeiten und vieles mehr. Es gibt jährlich eine sechstägige Frühlingsakademie (zuletzt 51 CME) und über das Jahr verteilt verschiedene Veranstaltungen, die inhaltlich und strukturell durch unsere Mitglieder entwickelt werden. Aktuell befassen wir uns intern mit dem Thema „Führungskultur“. Dabei spielen persönliche Erfahrungen mit Führung in Kliniken und Praxen als auch unsere vereinsinterne Führungskultur als konkretes Beispiel eine zentrale Rolle. In der Folge resultieren daraus Workshops zu ressourcenorientierter und bewusster Führung für KollegInnen in Führungspositionen und medizinische Teams.